Natürlich ist es ein Segen was heutzutage alles schon via Internet an historischen Zeugnissen erfasst ist. Digitalisieren liegt im Interesse der Archive, denn so werden die Originale geschont. Dem Forschenden ersparen Datenpools weite und teure Reisen. Bei meinem Thema über den Tütenfabikanten Joseph Schandua und seine Familie musst ich feststellen, wie unterschiedlich fortgeschritten in Deutschland die Digitalisierung ist. Da kann ein Faktum wie die Beheimatung in zwei deutschen Staaten wie Nassau und Preussen zum echten Problem werden, wenn es um Adressbücher oder Hinweise zum Familienstand geht. Das heutige Hessen und Rheinland-Pfalz beispielsweise sind inhaltlich und systemisch ganz unterschiedlich aufgebaut. Vor allem wer wann was sammelte, oder gar sammeln musste, hat sich je nach politischer Änderung des jeweiligen Staatswesens verändert. Bei Nassau war dieser Einschnitt 1866 nach dem verlorenen Krieg und dem Abgang Herzog Adolfs ins luxemburgische Exil. Aber in meinem Fall führte die Eingemeindung von Biebrich nach Wiesbaden beim Familienstandsregister zu Änderungen. Trotz wirklich intensiver Recherchen war die Erstellung der Genealogie der Familie Schandua ein kompliziertes Puzzelspiel. Amtliche Fakten und Familienlegenden müssen in Übereinstimmung gebracht werden. Teilweise kommt man sich wie ein Profiler vor, der aus den Bruchstücken Hypothesen zu Personen und Ereignissen aufstellt. Geschichte, so habe ich es in der Schule von Anfang an gelernt, beruht auf Fakten, die nur sorgfältig geordnet werden müssen. Während des Studiums habe ich über die Schriften von Walter Benjamin oder Siegfried Krakauer eine viel komplexere Sichtweise auf scheinbar klare Daten kennen gelernt. Maßgeblich nicht nur für mich ist das Buch „Die Lesbarkeit der Welt“ von Hans Blumenberg. Wie ein Historiker in die Geschichte hinein schaut, so schaut die Geschichte auf ihn zurück.
Um einen Forschungsgegenstand „lesen“ zu können, braucht man aber Texte, Informationen. Und manchmal ist „Kommissar Zufall“, der einem zu einer ungeahnten Quelle führt. Im Fall Schandua war es ein Querverweis auf einen Nachruf in der Deutschen Papierzeitung von 1929. Schon spannend, was man durch einfaches Suchen über google doch aus dem Infoozean fischen kann. Gleich zwei Archive hatten eine Ausgabe der Zeitung. Schnell war eine Bestellmail gesendet. Gebühren von 1,50€ fallen an? Kein Thema! Und dann- passierte fast drei Monate nichts. Auch auf weitere Mails keine Reaktion. Telefonisch hieß es sogar die Anfragen wäre nie eingetroffen. Soll ich mir nun beschweren, oder ist das Dokument vielleicht doch nicht so wichtig? Ich entschied mich eine Freundin, die Bibliothekarin ist ein zu spannen. Die mühte sich ebenfalls noch mal drei Wochen ab. Das Dokument könne man nicht scannen wegen der Bindung, hieß es nun von der einen Seite. Die Berliner weigerten sich schlicht die alte und empfindliche Zeitung aus dem Magazin zu holen. Doch dann endlich doch noch eine Mail mit einer pdf. Hurra! Der Erkenntnisforschritt ist zwar ein geringer, denn der Kurztext ist sehr knapp gehalten. Aber endlich steht da, dass Joseph Schandua in Hadamar auf des Gymnasium gegangen ist, und später sogenannte „Lehr- und Wanderjahre“ in Süddeutschland und Paris absolvierte. Das mit Frankreich war mir bisher nur als eine sonderbar, und gar nicht passende Legende überliefert. Wahrscheinlich werde ich trotzdem nicht klären, ob der junge Abiturient und nachmalig martialische Ulane Joseph tatsächlich „Gärtner“ lernte, und das im Ausland, wie seine Enkelin mit Hinweis auf spezielle Aprikosenbäume im Garten des Großvaters berichtet. Als er seinen Vater 1887 beerdigte, war er „Eisenbahntelegraphist“, und wie etliche seiner Halbgeschwister und deren Kindern Angstellter bei der Staatsbahn. Ein Jahr später gründete er mit Kompanions aus diesem Milieu eine Tütenfabrik. Ein bewegtes und unstetes Leben, das am Ende in der Gibb als solider Fabrikant endete.
Kathrin Schwedler